Leben unter Quarantäne: Der Druck, produktiv zu sein

23. April, 20

Wir haben mittlerweile sicherlich all diese vermeintlich „inspirierenden“ Memes in Social Media gesehen: Zum Beispiel über einen Mathematiker, der im 15. Jahrhundert irgendein superkompliziertes mathematisches Problem inmitten der Pest löste. Oder über den Künstler, der eines der bedeutendsten Werke der Welt während einer Pandemie im 17. Jahrhundert schuf. Und dann war da noch dieser Erfinder, der während der Weltwirtschaftskrise ein Werkzeug schuf, dass unser Leben komplett umgekrempelt hat.

Wahrscheinlich finden wir bald auch noch heraus, dass Steve Jobs das iPhone erdachte, während er sich in seinen Keller eingeschlossen hatte, die Kinder Zuhause unterrichtete und sich sozial von seinem Ingenieursteam distanzierte.

Diese Stories – ausgesprochen übertrieben, übrigens – sollen ein Feuer der Motivation in uns entfachen. Tatsächlich aber geben sie uns das Gefühl, dass wir unsere Pflichten nicht hinterherkommen. Wir sind überzeugt, dass andere uns negativ beurteilen, weil wir nicht genügend tun. Und wir fühlen uns gezwungen, noch produktiver als sonst zu sein, während die Welt auf dem Kopf steht.

Die zwei Produktivitätsmythen, die derzeit kursieren: Erstens – wir sollten diese Zeit auf eine bestimmte Weise nutzen. Und zweitens – wir haben plötzlich mehr Zeit, da wir doch alle zuhause feststecken.

Erstmal: Es gibt keinen falschen Weg, diese Zeit zu nutzen – es gibt nur deinen Weg. Wir alle kämpfen zuhause an ganz unterschiedlichen Fronten: angefangen mit psychischen Problemen, über kranke Angehörige oder Kinder, die zuhause unterrichtet werden müssen, bis hin zu einer neuen Routine, die wir finden müssen, Jobs, die wir verloren haben, oder eine Mangel an Lebensmitteln, medizinischer Hilfe oder sozialem Umgang. Und noch viel mehr.

Einige von uns sind gerne zuhause, aber kämpfen damit, Rechnungen zu bezahlen, während andere keine finanziellen Sorgen haben, aber Schwierigkeiten damit haben, nicht reisen zu können, und die Freiheit vermissen, zu jedem Zeitpunkt zu einem beliebigen Ort reise zu können.

Einige von uns erleben, wie unsere Pläne auf den Kopf gestellt wurden, und wir müssen neue Fähigkeiten erlernen. Andere mussten Pläne verschieben, um Angehörigen zu helfen, deren Pläne zur Hölle gingen.

Egal, wie du es drehst und wendest – wir alle erleben eine Realität, die keiner von uns vorher kannte.

Einige Menschen denken vielleicht, dass jetzt der perfekte Zeitpunkt ist „für all die Dinge, die ich immer schon erledigen wollte, wenn ich denn mal Zeit dafür habe“. Aber dieser Satz passt nur, wenn unser vertraute Welt nicht so völlig auf den Kopf gestellt ist.

Wir haben nicht mehr Zeit – wir haben genaugenommen weniger. Denn wir verbringen mehr Zeit damit, unseren Stress zu managen und uns an unerwartete und nicht vorauszusehende Veränderungen anzupassen. Und diese passieren jeden Tag.

Diese Versprechen, die wir uns selbst gemacht haben, diese Dinge, die wir geschworen haben zu tun, wenn wir „Zeit dafür haben“ – das gilt jetzt alles nicht. Wir müssen uns also nicht selbst verurteilen, wenn wir diese Versprechen nicht einhalten. Wir haben keine Versprechen gebrochen, weil wir ganz einfach nicht die Zeit für sie hatten.

Als Musik-Selbstständige erleben wir etwas, was „Entscheidungsermüdung“ genannt wird. Wir sind erschöpft, weil wir jede einzelne Entscheidung selbst fällen müssen und dann das Gewicht mit uns tragen, ob diese Entscheidungen die richtigen waren. Und das gilt für einen guten Tag.

Aber in dieser „neuen Normalität“, der wir uns alle gegenübersehen, erleben wir noch dazu eine moralische Ermüdung. Dieser Artikel im Rolling Stone erklärt: „In einer Kultur, die bereits praktisch einen Burnout erlebte, bevor uns die Coronavirus-Pandemie traf, mussten wir uns in den vergangenen wenigen Wochen mit seismischen gesellschaftlichen Veränderungen auf eine Art umstellen, die wir uns nie zuvor vorstellen konnten“.

Jede Entscheidung – bis hin zu der Frage, ob wir nach draußen gehen sollen oder nicht – hat nun eine immense Tragweite. Wir wissen, dass wir möglicherweise unsere Gesundheit riskieren und/oder dass wir mit unserer Entscheidung die Gesundheit anderer in Gefahr bringen können.

Wir alle teilen diesen zusätzlichen Stress, aber wir alle reagieren anders darauf. Einige strengen sich nun mehr an, andere gehen es lieber langsamer an.

Keine dieser Reaktionen ist an sich falsch. Man sollte sich lediglich dieser Reaktionen bewusst sein, damit man nicht zu sehr in das eine oder andere Extrem verfällt. Ein „Motivationsmarathon“ – so nenn ich das – kann zu einem Burnout führen. Wenn man seine Leidenschaften andererseits ignoriert, kann das zu längeren depressiven Phasen führen.

Hier sind fünf Tipps, wie du einen Mittelweg zwischen Hustlen und Verstecken findest:

1. Definiere für dich neu, was Produktivität bzw. Erfolg für dich bedeutet. Das heißt nicht, dass du dich mit etwas zufriedengeben solltest – es bedeutet, dass du dir bewusster wirst, was in deinem Kopf oder Körper passiert. Mach dir bewusst, dass etwas, was du noch vor Kurzem für realistisch gehalten hast, in diesem Moment unrealistisch erscheinen kann, angesichts dessen, was du gerade durchlebst. Passe dich dementsprechend an. Wenn du dir normalerweise drei Dinge aussuchst, auf die du dich konzentrierst, wähle erstmal nur eines.

2. Vergiss das Wort “Sollte” und schau dir genau an, wann du es benutzt. Wie oben erklärt – es gibt nicht den einen, richtigen Weg, mit all diesen Dingen umzugehen. Wenn das Wort „sollte“ auftaucht, ist der Zeitpunkt gekommen, mal die Pausetaste zu drücken und zu fragen, warum du den Druck fühlst, bestimmte Dinge tun oder Aufgaben erledigen zu müssen. Frag dich anschließend erneut, was genau dein Körper in diesem Moment braucht, und nimm dich dieser Bedürfnisse so gut wie möglich an.

3. Betrachte jeden Tag getrennt. Möglicherweise hast du heute einen produktiven Tag, aber das heißt noch lange nicht, dass du auch morgen produktiv bist. Erledige Dinge Schritt für Schritt und setze dir spätere oder lockere Deadlines. Warte mit langfristigen Planungen und konzentriere dich auf das Heute.

4. Sei dir bewusst, wie du deine Batterien wieder auflädst, und nimm dir dafür mehr Zeit als sonst. Noch einmal: Du hast derzeit weniger Zeit – nicht mehr. Du stehst auch mehr unter Druck, also nimm dir mehr Zeit für Self Care. Wenn das sonst nicht so sehr im Mittelpunkt steht, mach Self Care zu deiner obersten Priorität. Wenn du dir früher eine Stunde „Zeit für dich“ genommen hast, versuche, dir zwei Stunden zu geben. Eine Karriere aufzubauen ist wichtig, aber in einer leeren Kanne ist kein Wasser zum Gießen. Also füll sie erstmal auf!

5. Geh das nicht alleine an. Wegen all dieser sozialen Distanz fühlen wir uns noch isolierter, selbst wenn wir introvertiert und gerne allein sein sollten. Rechenschaft abzugeben hilft immer, wenn man auf ein Ziel hinarbeitet – und jetzt ist es wichtiger denn je, sich an andere zu wenden, um diese unsicheren Zeiten zu durchstehen.

Aber am allerwichtigsten: Vergiss nicht, dass du diese Zeit nicht vermasseln kannst. Du kannst sie nicht verschwenden und nicht überlisten. Es gibt keine Blaupause, also schaff dir deine eigene. Du schaffst das. Wir alle schaffen es.

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